Rezension der „Geschichte der Anarchie“ von Max Nettlau (Werkausgabe)
Die von dem Österreicher Max Nettlau (1865-1944) verfasste „Geschichte der Anarchie“, deren erster Band – Vorfrühling der Anarchie hier erstmals in einer kritisch-editierten Neuauflage vorliegt, gilt unbestritten als das wichtigste und umfassendste Werk über die Ideengeschichte des klassischen Anarchismus. Nettlau spannt den Bogen von der griechischen Antike, über die Aufklärungsepoche bis 1864. Als Grund für diesen historischen Cut gibt Max Nettlau die in diesem Jahr beginnenden neuen Entwicklungen an. „Diese Übersicht der älteren Anarchie mag mit dem Jahr 1864 enden, in welchem Bakunins internationale revolutionäre Gesellschaft und die am 29. September gegründete Internationale ihr Werk beginnen.“ (302). Sein Freund und Biograph Rudolf Rocker, der ihn auch bezeichnete ihn diesbezüglich als „Herodot des Anarchismus“ (Rocker, Nettlau, 16). Er lobte jenen ersten Band mit den Worten: „Der ‚Vorfrühling‘ ist eine wahre Schatzkammer wertvollster historischer Materialien, die überall durch genaue Angabe der Quelle belegt werden.“ (Rocker, Nettlau, 61).
Von seiner akademischen Ausbildung her war Nettlau zwar Sprachwissenschaftler (mit dem Schwerpunkt auf keltischen Sprachen), aber das hinderte ihn nicht daran, jenes auf sieben Bände angelegte Werk ab 1924 zu verfassen. Zu Lebzeiten erschienen lediglich zwischen 1925 und 1931 die ersten drei Bände; der vierte Band war für den Herbst 1933 geplant und konnte auf Grund der politischen Begleitumstände nicht erscheinen. Posthum erschienen Mitte der 80er noch die Bände vier und fünf. Die letzten beiden Bände sollen im Rahmen dieser Werkausgabe erstmalig publiziert werden. Auch neuere historische Forschungen zur Geschichte des Anarchismus wie die von George Woodcock (Anarchism, 1962) oder Peter Marshall (Demanding the Impossible, 1991) berufen sich auf die Pionierleistung von Nettlau.
In 25 Kapiteln werden im Zuge von Der Vorfrühling der Anarchie einzelne Denker und deren Rezeption vorgestellt. Neben William Godwin, Max Stirner und Pierre Joseph Proudhon, die zum klassischen Kanon des modernen Anarchismus zählen, werden vor allem frühsozialistische Protagonisten und Autoren angeführt, auf die sich partiell auch die marxistische Tradition beruft. Zu erwähnen wären hier u.a. der französische Priester Jacques Roux, Robert Owen oder Charles Fourier. In Bezug auf die französische Revolution zeigen sich partiell Differenzen in der Interpretation von Ereignissen und Protagoniste zwischen Nettlau und Peter Kropotkin (Die Große Revolution), die gesondert betrachtet werden müßten.
Als Materialgrundlage griff Max Nettlau auf sein umfangreiches Privatarchiv zurück, welches ihm bereits für die 1897 erstmalig publizierte Bibliographie de l‘Anarchie (Brüssel 1897) sowie deren faktischen Ergänzungsband Contribucion a la bibliografia anarquista de la America Latina hasta 1914 (Buenos Aires 1927) bildeten. Es beruhte auf jahrzehntelanger Sammelleidenschaft, die laut des Herausgeber Jochen Schmück von Victor Adler angestossen wurde, und war dank seiner umfangreichen internationalen Kontakte auch sehr reich bestückt mit Publikationen sowohl aus Europa als auch aus den USA. Nach eigenen Angaben bestand Nettlaus Sammlung bereits 1920 aus 3.200 anarchistischen Büchern und Broschüren, 1.200 anarchistischen Zeitschriften sowie mehreren tausend Sozialistika. Vereinzelt beruft er sich auch auf Hinweise aus der Sekundärliteratur oder von Genossen – ohne dies wohl selbst überprüft zu haben. Beispielhaft steht hierfür der Rückgriff auf Georg Adlers Geschichte des Sozialismus und Kommunismus: von Plato bis zur Französischen Revolution (1899) in Bezug auf die Einordnung von Zeno.
Dabei fokussiert sich Nettlau nicht auf eine Strömung des Anarchismus, sondern bildet das breite Spektrum von Individual- bis zum kommunistischen Anarchismus ab. Dabei ist nicht immer klar erkennbar, welche Definition Nettlau von Anarchismus verwendet, da er diesen Begriff an keiner Stelle definiert. Lediglich in Abgrenzung zu staatskommunistischen Aspekten lassen sich einzelne Facetten herauslesen.
Neben jener Geschichte tat sich Nettlau als Biograph bekannter Persönlichkeiten des Anarchismus hervor. Er verfasste Biographien von Michael Bakunin, Errico Malatesta und Elisée Reclus, die teilweise immer noch als Standardwerke gelten. Max Nettlau kann in Bezug auf seine Geschichte der Anarchie und deren Vorarbeiten sowie seiner biographischen Texte als Beginn der Anarchismusforschung gesehen werden. Es ist bis heute eine sehr nützliche Ressource für die Erforschung der Ideengeschichte des klassischen Anarchismus. Für die Zeit bis 1844 dürfte es bis heute die umfangreichste und detaillierteste Darstellung der Ideengeschichte des Anarchismus sein; für die späteren Jahre bildet sein Werk immer noch eine grundlegende Ressource.
Für die hier vorliegende Werkausgabe wurde die Originalpaginierung beibehalten. Neben der Printausgabe stellt der Verlag das Werk auch als Onlineexemplar kostenlos zur Verfügung. Für Käufer der Printausgabe biete die Onlineedition allerdings eine Reihe weiterer hilfreicher Funktionen – darunter unter anderem einer Volltextsuche, freie Verschlagwortung und Kommentierungsfunktion. Dem Nettlau‘schen Text vorangestellt finden sich neben editorischen Informationen eine kompetente Einleitung des Herausgebers, in der Max Nettlau, sein Werk und seine vorgestellt und eingeordnet werden. Weiterhin verfügt die Ausgabe über ein Namens- und Periodikaregister.
Der Verlag hat die Veröffentlichung vom zweiten Band der Geschichte der Anarchie für den Herbst 2020 angekündigt; Band 3 für Herbst 2021.
Maurice Schuhmann
in: TSVEYFL - dissenzorientierte Zeitschrift, Oktober 2020
Max Nettlau: Geschichte der Anarchie, Band 1: Der Vorfrühling der Anarchie (= Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte). Herausgegeben und mit einer Einleitung von Jochen Schmück versehen, Libertad Verlag Potsdam 2019, 336 Seiten, Preis: 38 Euro, ISBN: 978-3-922226-29-1. Website: http://geschichte-der-anarchie.de.