„Alles was Uniformität heißt, ist unseren Forderungen fremd!“

Rezension der „Geschichte der Anarchie“ von Max Nettlau (Werkausgabe)


In sozial deprimierten Milieus steht die Freiheit nicht an erster Stelle. Drängende Not kann zum Umsturz führen, kann zerstören und dadurch Räume öffnen. Aber ein emanzipatorischer Neuaufbau braucht mehr. Er braucht Selbstbewusstsein, individuelle Tatkraft und kooperativen Geist, er braucht eine Atmosphäre von Liberalität und gutem Willen, er braucht bereits funktionierende Ansätze von Selbstverwaltung und gegenseitiger Hilfe. Fehlt eine gelebte Kultur der Anarchie, bleibt das Aufbegehren ohne konstruktive Kraft. Neue Autoritäten ernten die Früchte. Herrschaft setzt sich wieder fest.

Das ist die Empirie neuzeitlicher Revolutionsversuche. Max Nettlau (1865-1944), der Historiker freiheitlich sozialer Strömungen, nahm diese Empirie ernst. Genau deswegen hat er uns auch heute noch viel zu sagen.

Eine Werkausgabe von Nettlaus „Geschichte der Anarchie“ unternimmt jetzt der Potsdamer Libertad Verlag. Angelegt ist sie als multimediales Projekt, das kollektive Teilhabe und fortführenden Diskurs ermöglichen soll. Start war im Dezember 2019 die gedruckte Buchausgabe von „Band I: Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864“.

Ein bibliophiles Kleinod und weit mehr als die bloße Neuauflage eines Textes von 1925. Das ist dem Herausgeber Jochen Schmück zu danken. Seine programmatische Einleitung (S. 19-70) verlässt die Gleise historisierender Lesart. Aus dem biographischen, ideen- und bewegungsgeschichtlichen Kontext heraus lässt er Nettlaus Positionen eigenständig hervortreten. Er betrachtet sie von allen Seiten, diskutiert sie kritisch, prüft ihre Tragfähigkeit und öffnet auch uns die Augen für ihre aktuellen Gehalte.

Max Nettlau hätte seine Freude daran: Zukunftsorientiert mit dem eigenen Erbe umgehen! Genau das hatte er der anarchistischen Bewegung immer wieder ins Stammbuch geschrieben. Selbst schöpferische Denker, z.B. Pierre Joseph-Proudhon (1809-1865), versperren die Aussicht, wenn sie posthum aufs Podest gestellt werden. „Proudhon wird als eine elementare Größe empfunden, aber seine wirklichen, sachlich so revolutionären Ideen haben weder zu seiner Zeit, noch jetzt, die ihnen gebührende Beachtung gefunden; es fehlt ein sie von allem Beiwerk befreiender und sie an den heutigen Verhältnissen erprobender klarer Geist“ (S. 222).

Das eigene Modell wie ein Rechenexempel zu demonstrieren, bringt wenig. Es kommt darauf an, sich mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Wichtig sind gesellschaftliche Verankerung und praktische Synthesen von Freiheit und Solidarität. Ihnen ist Nettlau auf der Spur, durchforstet die Archive, sammelt und inventarisiert. Daraus, wie er das Material für uns ausbreitet, spricht der Herrschaftsverächter und anarchistisch Fühlende. Mit tiefem Gespür, Herzenswärme und Offenheit wird er zum Archäologen der Emanzipation, entreißt Altes der Vergessenheit, rückt scheinbar Bekanntes in neues Licht. „Nichts wäre falscher als Unzureichendes mit Geringschätzung zu behandeln“ (S. 268). Wertzuschätzen sind alle Versuche, „aus dem Dunkel der Autorität sich dem Licht und dem Leben der Freiheit irgendwie entgegenzutasten“ (Ebd.).

Jenseits aller Theorienentwürfe ist die wichtigste Traditionslinie der Experimentalsozialismus. Immer dann, wenn direkte Aktion, Autonomie, Toleranz und Macht des eigenen Beispiels zusammenflossen, war von der Sache her anarchistisches Beginnen möglich. In freiwilligem Zusammenschluss, mit eigenen wirtschaftlichen Mitteln, unabhängig von staatlichen Institutionen, zu jeder Zeit und an jedem Ort: Die englischen Digger um Gerrard Winstanley (1609-1676), die brachliegenden Grund und Boden besetzten und „eben die Hand nicht in den Schoß legten, sondern den Spaten nahmen, das Land umzugraben und ihren Ideen entsprechend zu leben“ (S. 120). Die soziale Gemeinde des psychologisch brillanten Charles Fourier (1772-1837). Siedlungs-, Kooperativ- und Tauschbankprojekte von Robert Owen (1771-1858) und William Thompson (1775-1833). Der proudhonsche Mutualismus, aber auch frühe Ökologieentwürfe von John Adolphus Etzler (1791-1846).

All das und noch viel mehr legt Nettlau für uns frei, bettet es ein in sein pluralistisches Universum: „Anarchismus ist Leben, das Leben selbst in seiner ganzen Vielseitigkeit … und dieses Leben wird sich zwischen kollektiver und individueller Betätigung, Solidarität und Freiheit, freiem Kommunismus und Individualismus in endlosen Variationen und Nuancen bewegen“ (S. 200 f.).

Von seiner ganzen Haltung her ist Nettlau selbst Teil des sozialen Wärmestroms, den er als aufbauende Kraft auf seinem Weg durch die Jahrhunderte beschreibt. Wie klein und selbstbezogen wirken dagegen viele Auseinandersetzungen innerhalb der heutigen Anarcho-Szene. Man möchte ihnen zurufen: Lest Nettlau!

Der erste Band der neuen Werkausgabe der „Geschichte der Anarchie“ liegt nun als gedrucktes Buch und auch als frei zugängliche Online­ausgabe vor.

Markus Henning

in: espero - libertäre zeitschrift, Nr. 1, Juli 2020


Max Nettlau: Geschichte der Anarchie – Band 1. Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864. Werkausgabe. Herausgegeben von Jochen Schmück. Potsdam: Libertad Verlag, 2019 (= Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte; 9). 336 Seiten. ISBN 978-3-922226-29-1. 38,00 € (Die Onlineausgabe des Werkes findet sich unter: www.geschichte-der-anarchie.de)

 


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